Über Trauerlandschaften und Trauerlandkarten
Manchmal sind wir Menschen echte Angsthasen. Wobei die Sache mit der Angst beim Hasen vermutlich eher eine Instinktsache ist. Bei uns sind es oftmals die vielen Sorgen und Gedanken, die uns Angst einjagen, die uns lähmen und verunsichern. Manchmal berechtigt. Oft aber völlig unnötig. Bei uns ist das meist nicht die nackte Angst ums Überleben, so wie bei dem Häschen. Wir haben eher Angst davor, was irgendwie irgendwann in ferner Zukunft eventuell einmal eintreffen könnte. Was passiert mit mir später, wenn ich nicht ausreichend oder nicht richtig trauere? Wann und wie wird mich diese Trauer einholen? Wird sie mich auffressen?
Und wenn wir ausnahmsweise mal nicht mit unseren Gedanken ganz weit entfernt in der Zukunft oder in der Vergangenheit unterwegs sind, dann haben wir auf einmal Angst vor dem Hier und Jetzt. Und am allermeisten vor unseren Gefühlen. Ist es normal, dass ich jetzt schon wieder oder immer noch traurig bin? Darf ich überhaupt schon wieder lachen? Ich kann doch jetzt nicht wütend sein. Müsste ich nicht langsam wieder normal sein?
Mich selbst hat lange Zeit immer wieder die Angst beschlichen: Trauere ich eigentlich richtig? Was ist denn richtiges Trauern? Was passiert mit mir wenn ich das alles nicht richtig mache? Trifft mich dann irgendwann der Schlag? Breche ich zusammen? Falle ich in ein Loch? Kann ich mich verirren in dieser Trauer? Finde ich dann jemals wieder den Weg hinaus?
Und auch immer noch macht sich ab und an eine Stimme in mir bemerkbar, die mir versucht zu sagen, dass es doch jetzt wirklich langsam mal gut ist. Dass ich das mit der Trauer jetzt endlich mal sein lassen könnte. Dass es an der Zeit ist, dass wir endlich wieder getrennte Wege gehen - die Trauer und ich.
Dabei ist es doch eigentlich so klar: Wir Menschen sind alle sehr unterschiedlich. Und daher müsste uns eigentlich auch klar sein, dass wir alle sehr unterschiedlich trauern. Dass wir alle ganz individuell mit einem Verlust umgehen. Dass uns ganz unterschiedliche Dinge gut tun oder eben auch nicht. Dass uns in unserer Trauer ganz unterschiedliche innere und äußere Faktoren beeinflussen. Dass es kein Richtig und kein Falsch gibt. Trotzdem schlummert sie in uns: Die Angst vor der Trauer.
Wir suchen nach Mustern. Nach dem was normal ist. Nach dem, wie es sein sollte. Wir suchen Orientierung. Schauen auf andere. Hören von anderen gut gemeinte Ratschläge. Lernen dazu. Vergleichen uns. Das kann hilfreich sein. Zumindest solange wir auf unserem eigenen Weg bleiben. Uns davon nicht abbringen oder uns irritieren lassen. Auf uns selbst hören. Und bei all den Vergleichen nicht in die für uns vielleicht viel zu kleinen oder viel zu großen Trauerfußstapfen der anderen treten.
Die Trauerlandkarte
Natürlich gibt es auch für die Trauer zahlreiche wissenschaftlich erhobene Daten aus denen Erklärungsansätze, Trauermodelle, Trauerphasen, Traueraufgaben formuliert wurden. Sie alle geben der Trauer einen gewissen Rahmen. Sie versuchen zu erklären, was für einen Großteil von uns normal ist und was nicht. Trotz aller Individualität gibt es wohl doch einige Parallelen in unser aller Trauer.
Ich stelle mir die Trauer inzwischen wie eine Landschaft vor. Jeder von uns trägt seine ganz eigene Trauerlandschaft in sich. Und wenn wir möchten, dann können wir uns unsere Trauerlandschaft mit Hilfe einer Trauerlandkarte genauer anschauen. Dem einen hilft diese Landkarte vielleicht, weil er sich gerne damit orientiert und die Anmerkungen in der Karte und die Legende hilfreich findet. Andere laufen lieber einfach drauf los und schauen, wo sie rauskommen. Auch völlig in Ordnung.
Ich mag Landkarten. Und daher mag ich es auch mich ab und an darauf zu verorten, mich zu orientieren und zu schauen, wo ich herkomme und was es vielleicht noch zu erkunden gibt. Das gibt mir Sicherheit. Das nimmt mir die Angst mich zu verlaufen.
Ich glaube, dass der Trauerweg für viele von uns schon ganz grob und ganz schwach erkennbar ist in unserer jeweiligen Trauerlandkarte. Ein paar ähnliche und typische Landschaftsformen können wir alle in unserer Trauerlandkarte ausmachen. Wie wir diese Landschaft aber wahrnehmen, sie gestalten und sie dann auch letztlich durchlaufen ist ganz individuell. Welchen Weg wir einschlagen hängt von uns selbst ab, von den inneren und äußeren Einflüssen, von dem was war und dem Jetzt. Einige werden sich reinstürzen in das steile Auf und Ab der Berge. Andere gehen es vielleicht erstmal langsamer an, meiden das unwegsame Gelände, schauen sich zunächst im halbwegs überschaubaren Flachland um, baden ein bisschen im Tränensee. Und vielleicht finden sie sogar einen für sie schöneren Weg um die Berge drum herum, der nicht ganz so steil ist und nicht ganz so viel auf einmal von ihnen abverlangt.
Meine Trauerlandschaft
In meiner Trauerlandschaft gibt es Höhen und Tiefen, Berge und Täler. Es gibt schmale Bäche, breite Flüsse, Seen und das Meer. Manche Gewässer sind tief und unergründlich. Durch andere kann ich hindurchwaten. Manchmal erfrischen sie mich, manchmal machen sie mir Angst. Am Anfang des Weges durch meine Trauerlandschaft kann ich meine Umgebung und die Landschaft kaum richtig erkennen. Es liegt ein Nebel über allem. Manchmal frage ich mich, wie ich es durch diesen Nebel hindurch geschafft habe. Er lichtet sich mit der Zeit. Glücklicherweise. Ich kann wieder klarer sehen, erkennen, begreifen und realisieren.
Ich lerne unterwegs, dass der Mensch in der Regel sehr widerstandsfähig und durchaus dafür gemacht ist mit Verlusten und der Trauer umzugehen. Ganz ähnlich wie der Hase, der instinktiv wegläuft, wenn sich vermeintliche Gefahr nähert. Angeblich schlummert auch in uns so etwas wie ein Trauerinstinkt. Er hilft uns intuitiv mit der Trauer klar zu kommen. Er hilft uns auf unserem Weg durch den Nebel. Wir laufen automatisch in die für uns richtige Richtung. Wir funktionieren. Meist sogar ganz gut. Und wir suchen uns instinktiv das, was wir in dem jeweiligen Moment brauchen. Ich verkrieche mich ab und an in eine schützende Höhle. Weil ich es brauche. Gehe in den Wald, weil er mir gut tut. Das mit dem Trauerinstinkt beruhigt mich. Es nimmt mir etwas die Angst vor dem, was mir da vielleicht noch begegnet auf meinem Weg. Was mich vielleicht noch einholen könnte. Macht mir Mut. Ich kann das wohl schaffen, das mit der Trauer.
Manchmal ist meine Trauerlandschaft steiler und schwieriger zu erklimmen. Mal ist sie flach und eben. Manchmal laufe ich querfeldein ohne Orientierung. Mal ist der Weg eindeutig erkennbar. Manchmal muss ich durch den Tränensee schwimmen. Mal kann ich hindurchwaten. Manchmal begleiten mich andere Menschen. Mal bin ich lieber alleine. Ab und an mache ich eine Pause auf einer sonnigen Wiese, beobachte die Schmetterlinge, die Vögel und die Rehe, genieße den Ausblick und lasse es mir einfach gut gehen.
Ich erfahre, dass Trauer eine ganz normale Reaktion auf den Verlust eines geliebten Menschen ist. Dass Trauer keine Krankheit ist. Klingt logisch. Wusste ich eigentlich. Aber es tut gut, das noch einmal zu hören. Ich bin nicht krank. Ich bin normal. Ich bin ich.
Mit der Zeit merke ich, dass es nicht mehr so anstrengend ist in meiner Trauerlandschaft unterwegs zu sein. Es schmerzt nicht mehr so sehr. Es geht nicht mehr so steil bergauf und bergab. Ich muss nicht mehr durch den Tränensee schwimmen. Ich habe andere Wege gefunden, die ich nehmen kann. Wenn ich mag, dann gehe ich trotzdem baden. Aber der See ist nicht mehr so tief und bedrohlich. Ich kann schneller wieder ans Land und sicheren Boden unter meinen Füßen spüren.
Ich habe inzwischen gelernt mich in dieser für mich neuen Welt zurechtzufinden. Ich kenne mich inzwischen ganz gut aus in meiner Trauerlandschaft. Sie ist noch immer voller Erinnerungen an meine Mutter. Die meisten sind sehr schön. Einige davon habe ich eingezeichnet in meine Trauerlandkarte, in meine ganz eigene Schatzkarte. Andere begegnen mir immer mal wieder völlig unerwartet und unvorhersehbar. Dann ist es der Sonnenstrahl, der mich durch das Blätterdach der Bäume blendet und mich an sie erinnert. Der bunte Himmel im Sonnenuntergang. Oder der Schmetterling, der über die Wiese tanzt. Ich kann sie nicht immer konkret verorten, aber sie ist da in meiner Landschaft. Das fühlt sich gut an.
Vielleicht ist meine Trauerlandschaft inzwischen eigentlich meine Lebenslandschaft. Es gibt immer wieder neue Ecken zu entdecken, neue Wege zu gehen. Das ist schön. Und darf auch gerne so bleiben. Ab und an bin ich das Angsthäschen das mittendurch prescht durch diese Landschaft. Manchmal verirre ich mich. Muss einen Umweg gehen. Auch das ist schön manchmal. Aber ich weiß, welche Orte und Umgebungen mir gut tun, welche mich stärken und wo in etwa ich sie finde.
Die Trauer und ich
Und trotzdem begegnet mir auf dem Weg durch meine Landschaft immer wieder mal die Trauer. Manchmal bin ich erschrocken, dass sie schon wieder auftaucht. Sie bereitet mir aber nicht mehr eine solche Angst. Ich verstehe, dass sich unsere Wege auch in Zukunft immer wieder kreuzen werden. Mal völlig unerwartet. Mal kann ich sie auf meiner Landkarte schon erahnen. Wir werden immer mal wieder ein Stückchen zusammen gehen müssen. Ich weiß, dass ich sie nicht einfach loswerden kann. Sie nicht einfach abschütteln oder aus meiner Landschaft verbannen kann. Sie gehört zu meiner Landschaft dazu. Stattdessen versuche ich sie als eine immer wiederkehrende Wegbegleiterin zu akzeptieren. Je länger wir uns kennen, desto besser verstehen wir uns - die Trauer und ich.
Deine Trauerlandschaft
Wie sieht sie aus - deine Trauerlandschaft? Wo bist du gerade unterwegs? Kannst du dich auf deiner Trauerlandkarte finden? Welche Schätze hast du dort eingezeichnet? Wo fühlst du dich wohl? Was macht dir Angst?
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